Er stand fast nackt da.
Das gelbe Tuch unbeholfen um den Körper gewickelt, durchsichtig im Sonnenlicht. Schwitzend in der abnehmenden Glut des Sommertages, die Bettelschale in den Händen, abwartend, bis die Essensreste des letzen Gastes abgetragen und zur Hintertür gebracht wurden.
Schweigend atmete er in seinen leeren Bauch hinein.
Er war dankbar, dass das Hungern für heute ein Ende gefunden hatte.
Er war dankbar für den Essensbrei verschiedener Teller, der seine Schale füllte. Reis und Dhal und nicht benennbare Brocken, die sich nach dem Abkratzen gemischt hatten.
Still zog er sich an seinen Platz an der Mauer zurück. Er ließ sich auf den Boden sinken, während der erste Bissen schon in seinem Mund verschwand.
Beschämend.
Und bewundernswert.
Würde man diese Szene rückwärtslaufen lassen, wie bei einem Film, dann könnte man sehen, dass der Mann sich das Tuch eines Bettelmönches erst an diesem Tag umgelegt hatte. Man könnte Zeuge davon werden, wie er dass Gewand eines tibetischen Mönches ablegte. Wie er gleichzeitig seinen Namen, seine Stellung, seine Sicherheit und Identität ablegte, um zu einem namenlosen Wanderer zu werden.
Der Prozess begann zwei Wochen zuvor, als er sich nachts in aller Stille und Heimlichkeit aus dem Kloster in Bodh Gaya im Norden Zentralindiens stahl.
Mit ein paar Habseligkeiten in einem Rucksack, ein paar Rupien in der Tasche und dem festen Willen, seinen Plan zu verwirklichen, machte er sich auf den holprigen Weg Richtung Bahnhof in Gaya, um sich ein Zugticket zu kaufen.
Nur, er wusste nicht, wie das geht. Er hatte noch nie ein Ticket gekauft.
Der Bettler und lebensuntüchtige Reisende ist ein Tulku, die anerkannte Reinkarnation eines spirituellen Meisters, hineingeboren in eine Familie hochrangiger Meditationsmeister, von denen sein Vater Tulku Urgyen Rinpoche der bedeutendste war. Umgeben von Bediensteten waren ihm jegliche Lasten des Alltags abgenommen worden, um sich ganz der Ausbildung, der Meditation und seiner Tätigkeit als Lehrer widmen zu können.

Sein Name: Yongey Mingyur Rinpoche, Abt des Klosters in Bodh Gaya.
Zweck seiner Reise: das anstehende 3-Jahres-Retreat.
Buddhistische Mönche und Nonnen, aber auch Laien ziehen sich regelmäßig in Retreats zurück, um sich ganz der Meditation zu widmen. Das kann von wenigen Tages (Laien) bis zu mehreren Jahren (meist Ordinierte) dauern. 3-Jahres-Retreats sind in der Tradition von gängiger Länge. Bei Mingyur Rinpoche sollten es 4 Jahre werden.
Normalerweise finden diese Retreats in einem behüteten Rahmen statt. Man wird versorgt und es ist bekannt, wo man sich aufhält.
Mingyur Rinpoche hatte sich das Ziel gesetzt, in der noch älteren Tradition der Sadhus durchs Land zu ziehen. Diese hinduistischen Asketen ziehen in völliger Armut und frei von jeglichem weltlichen Besitz umher. In zeitgenössischen Bildern sind sie häufig nackt und mit Asche bedeckt zu sehen. Mingyur hatte sich recht üppig mit einem gelben (fast durchsichtigen) Tuch ausgestattet, das er später durch wärmere Kleidung austauschen würde.



Seine persönlichen Helden aus seiner tibetischen Kagyu-Übertragungslinie waren diesen hinduistischen Vorreitern gefolgt, um in der Wildnis und in den Städten zu leben. Frei von jeglicher Bindung an Status, Privilegien, materieller Versorgung, Familie und Freundschaft machte er sich auf seine eigene, persönliche Reise auf den Spuren der Sadhus, um sein bisheriges Leben „sterben“ zu lassen.
Nur: Das hätte niemand aus seinem Umfeld gut gefunden. Sie hätten versucht, es ihm auszureden, ihn davon abzuhalten. Deshalb musste er es heimlich tun und sich wie ein Dieb in der Nacht davonstehlen, um der zu werden, von dem er nichts wusste.
Und von eben dieser Reise, diesem Sterben und Werden handelt die Autobiografie Yongey Mingyur Rinpoches "Auf dem Weg".
Ein Buch, das aus meiner Sicht zum einen durch seine spannende Erzählweise besticht. Man schleicht mit Mingyur des nachts durch sein Kloster, sieht, wie er die quietschenden Türangeln schmiert, hört das Geplärre und sieht das Gewimmel von Mensch und Tier am Bahnhof von Gaya. Man quetscht sich mit ihm als letzten Reisenden in den überfüllten Waggon, fühlt die Hitze und versucht dem Gestank auszuweichen, indem man durch den Mund atmet.
Zum anderen ist da auch die Ebene des Lehrbuches, die aus den Erlebnissen heraus zeigt, wie man konstruktiv und achtsam auf die Herausforderungen des Lebens reagieren kann. Dieses Buch zu lesen ist nicht nur das Betrachten und Miterleben eines fremden Lebens. Man erkennt sich auch selbst in verschiedenen Lebensumständen wieder. Dabei handelt es sich um Situationen, in denen man mit etwas überfordert ist, die unangenehm oder überwältigend sind. Und nun geht es um den Umgang eines Meditationsmeisters mit diesen Gegebenheiten. Und man schaut in seinen Kopf und praktiziert mit ihm Achtsamkeit im Alltag. Ganz speziell in dieser einen Situation, die man dann für sich selbst in die eigene Lebenswelt transportieren kann.
Da ist beispielsweise die schon erwähnte Zuggeschichte:
„Ich war zwar nicht gewohnt, erster Klasse zu fahren, aber ich war mir meines Unbehagens in dieser vollkommen neuen Umgebung deutlich bewusst. Die Farbe der Bänke und Wände war ein widerliches Grün, und in dem trüben Licht sah alles schimmelig aus. Ich hatte das genau so haben wollen, rief ich mir in Erinnerung, mit Menschen zu reisen, die in der Welt als unwichtig gelten und von der Gesellschaft nicht wertgeschätzt werden. wer spürt also ein solches Unbehagen? Der hochverehrte Rinpoche? Der privilegierte Abt? Der starre Geist, der an diesen geehrten Titeln festhält?
Meine Augen befanden sich nicht im Leerlauf. Sie sahen nicht nur und ruhten auch nicht auf Objekten. Stattdessen wurden die Gestalten um mich herum zu fremden Wesen, zu anderen, zu denen da drüben. Ihre schmutzige Kleidung verdunkelte mein Herz. Ich störte mich an ihren rissigen, nackten Füßen, doch bald schon würden die meinen genauso vor Schmutz starren. Ihr Körpergeruch war abstoßend, obgleich mein Körpergeruch durch die Luftfeuchtigkeit, die Hitze und das Fehlen einer Klimatisierung vermutlich genauso penetrant war, denn das Hemd unter meiner Robe klebte schweißnass an meinem Körper.
Abermals war mein Körper an einem Ort und mein Geist an einem anderen.“
Mingyur Rinpoche nimmt die Leser*innen mit in seine Gefühls- und Gedankenwelt, in seine Selbstanalysen. Er hatte sich das Ausbrechen aus seiner bisherigen Lebenswelt anders vorgestellt und wird nun mit einer Realität konfrontiert, die er nicht mag, nicht annehmen kann, die ihn überfordert.
Was ich interessant finde, ist, auf welche Weise er damit umgeht. Er holt mich unmittelbar ab, da ich (wie sicher auch Du) regelmäßig in Situationen gerate, in die ich nicht hineingeraten wollte, aus denen ich aber nicht so einfach wieder herauskomme. Die Frage, die sich dann immer stellt ist: Was nun? Wie umgehen mit diesem Schlamassel? Wie komme ich da wieder raus?
Meine innere Stimme bekommt dann gern einen schrillen Klang: Die Lösung bitte in Abteil Sorgenvoll! Die Lösung bitte!
Oder etwas leiser hinter vorgehaltener Hand: Ich muss hier weg…
Klappt meistens beides nicht.
Mingyur Rinpoche greift in diesen Situationen auf die Lehren seiner eigenen Tradition zurück, die er in all den Jahren intensiven Studiums verinnerlicht hat. In unterhaltsamen Erinnerungen an seine Lehrer und ihre Worte, vermittelt er sie den Lesenden auf unkomplizierte Weise und zeigt ganz praktisch, was nun zu tun ist:
„Ich beschloss, dass eine einfach Gewahrseinsmeditation wahrscheinlich die verlässlichste Übung war, um den Geist inmitten von Gegebenheiten zu stabilisieren, die als aversiv erlebt werden. Bei dieser Praxis geht es darum, den verwirrten Geist zu sammeln, indem wir ihn leicht auf ein Sinnesobjekt legen. Da ich von Geräuschen aus der Fassung gebracht worden war, wählte ich Geräusch als Objekt. Diese Gewahrseinspraxis verwendet Geräusche als Stütze für die Meditation: Das Objekt unterstützt unser Erkennen des Gewahrseins, bleibt aber nicht in dessen Fokus.
Etwa eine Minute lang machte ich eine Bestandsaufnahme aller verschiedenen Geräusche um mich herum. Dann wählte ich das dominanteste davon aus: das mahlende Klopfen der Räder auf den Schienen. Ich lenkte meinen Geist auf dieses Geräusch und ließ ihn leicht darauf ruhen.
Verweile beim Geräusch.
Kein Kommentar. Freunde dich mit diesem Geräusch an.
Lass die Gedanken, die Ängste und die Verkrampfung in dieses Geräusch hinein abfließen.
Verwende diese Geräusche, um den Geist zu sammeln. Wenn Gedanken kommen, ist das in Ordnung. Lass sie einfach ziehen. Es sind Wolken, die vorüber treiben. Kehre zum Objekt zurück.
Ruhe aus.
Nach etwa fünf Minuten zog ich meinen Geist vom Objekt – vom klopfenden Geräusch – ab und ließ zu, dass mein Gewahrsein offen blieb, um meinen Geist in die Lage zu versetzen, verschiedene Geräusche (Räder, Husten, Gespräche) wahrzunehmen, ohne sich auf einem davon niederzulassen. Das nennen wir offenes Gewahrsein oder Shamata ohne Objekt.
Lass es geschehen.
Was immer entsteht, lass es geschehen.
Bleib beim Gewahrsein. Nimm Notiz vom Entstehen des Geräusches innerhalb des Erkennens des Gewahrseins.
Geh nicht darauf zu. Ziehe dich nicht davon zurück.
Selektiere nicht.
Bleib gewahr.
Ruhe aus.
Bald schon wurden ehemals störende Geräusche beruhigend. Nach etwas zwanzig Minuten konnte ich einen gewissen Abstand zwischen mich und mein Unbehagen legen. Mein erweitertes Selbstempfinden wurde größer als das Problem. Es konnte die negative Reaktion auf ein Geräusch innerhalb einer größeren Sphäre unterbringen, was bewirkte, dass ich und mein Unbehagen nicht mehr die exakt gleiche Größe und Form hatten. Das Unbehagen was noch da. Es verschwand nicht, aber ich war nicht mehr in ihm gefangen.
Das Gewahrsein ist die Essenz unserer Existenz. Es ist die ganze Zeit in unserer Reichweite, und dennoch können es die meisten von uns nicht erkennen.
Mich begeistert diese Mischung zwischen Biographie und Lehre wirklich sehr. Es wird nicht beim einmaligen Lesen bleiben!
Es ist eines der wenigen Bücher, in die ich hineinschreibe und in denen Eselsohren (!) zu finden sind. Die mache ich nämlich nie.
Ich könnte noch so viel mehr über dieses Buch erzählen und herausschreiben! Es ist ein Feuerwerk an Wissen und Abenteuer!
Unbedingt


lesen!
So viel nur noch zum Schluss: Das Essen, das Mingyur sich an diesem heißen Sommertag erbettelt hatte, war gar nicht gut. Irgendein Gast muss krank gewesen sein. Und was dann mit ihm geschah, das erfährst Du im Buch auf den Seiten…